Seite wählen

Aktuell gehen wieder Unmengen von Reels und Memes durch die digitalen Weiten, in denen es darum geht, wie wir zu Gewinnern des Jahres werden, wie wir anderen erfolgsmäßig eins auswischen, wie wir es den Menschen, die uns vermeintlich scheitern sehen wollen, mal so richtig beweisen können. Ich persönlich finde alles, was aus dieser Ecke kommt höchst problematisch, denn es ist toxisch, egomanisch, patriarchal, Teil der kapitalistischen „Grind-Culture“ und einfach nur voll 80er, um ehrlich zu sein.

Bei all dem „woken“ Shit, der mittlerweile da draußen unterwegs ist und all dem permanenten Betonen von Sisterhood und Co, fällt es mir schwer irgendetwas davon zu glauben, sobald im nächsten Satz von Gewinnen, Verlieren, Beweisen, Scheitern, Auswischen oder ähnlichem gesprochen wird. Es fühlt sich an, wie die perfekt in Athletic Wear gekleidete, gutverdienende Großstädterin die nach dem Shavasana und dem Gurkenwasser im von ätherischen Ölen erfüllten Studio in ihren SUV steigt und anfängt andere Autofahrer zu bepöbeln und Fußgänger zu beschimpfen, weil diese Idioten keine Ahnung vom Fahren haben oder einfach über den Zebrastreifen laufen, wenn sie doch schon fast drauf gefahren ist, während sie ihr FijiWasser trinkt. Puff ist all die inszenierte Entspanntheit, Liebe und Toleranz verschwunden. Sie kann nur im dafür vorgesehenen Container gehalten werden.

Der gut verkleidete Glaube an den Kapitalismus

Ebenso funktioniert es mit den oben erwähnten Posts: ich kann nicht Erleuchtung predigen und dann von „Auswischen“ sprechen. Und vor allem: wir sollten uns darüber bewusst werden, was diese Post eigentlich aussagen. Die Kernbotschaft ist: ich glaube an den patriarchalen, kapitalistischen Grundsatz, dass der Stärkere gewinnt und dass es nur einen geben kann. Ich glaube an „entweder oder“, Auge um Auge, The winner takes it all – und wie auch immer du es formulieren würdest. All diese Posts und Memes sind am Ende nämlich nur eines: das Verstärken der kapitalistischen Grundsätze, der Idee davon, dass das Leben ein Kampf ist und wir die Gewinner sein werden, sie es allen anderen mal so richtig gezeigt haben.

Aktuell beliebt ist:

Irgendjemand da draußen wartet nur darauf, dass du scheiterst.

Sorge dafür, dass er erstickt.

Zuallererst – wie egogetrieben kann jemand sein, der davon ausgeht, dass er allen Ernstes die permanente und absolute Aufmerksamkeit von jemandes anderes hat, der nur darauf wartet, dass er oder sie scheitert? Ich persönlich glaube nicht, dass ich so wichtig oder interessant bin, dass jemand seinen Atem darauf verwetten würde. Am Ende entlarvt das Meme also nur den eigenen Narzissmus. Denn: ich nehme meine Arbeit ernst und weiß, dass sie wichtig ist. Doch ich als Person bin genauso relevant wie alle anderen Menschen. Und das Narrativ, dass es da draußen Menschen gibt, die nur auf mein Scheitern warten würden, stilisieren mich zur Heldin in einer Saga, die nicht wirklich existiert. Doch wir kreieren sie, weil wir sie glauben. Weil sie uns so oft erzählt wurde. Weil sie die Basis unseres gesellschaftlichen Systems bildet. Wir wollen wie Frodo sein oder Harry Potter – wir wollen glauben, dass wir als „einfache Person“ etwas außergewöhnliches schaffen können und die bösen Kräfte besiegen. Wir wollen das Zentrum unseres Seins sein, der Mittelpunkt der Geschichte. Totale Ego-Show, Individualismus in Reinkultur.

Die ewigträllernde Botschaft der eigenen Wichtigkeit

Und ja, das ist das Resultat der ewigträllernden Botschaften davon, dass du der wichtigste Mensch in deinem Leben bist. Das bedeutet aber eben nicht, dass andere dich und vor allem deine Produktivität für ebenso wichtig erachten. Denn das ist es ja, worum es am Ende bei diesen Posts geht: wie wirtschaftlich erfolgreich bin ich gewesen? Wie sehr habe ich den Mainstream-Kriterien für Erfolg entsprochen? Dabei kann es auch um Gewichtsverlust, Fitness, das Anschaffen materieller Güter oder das Urlauben in luxuriösen Umgebungen gehen. Es geht darum zu beweisen, dass wir die Boxen des kapitalistisch definierten Erfolgs abhaken können. Und wenn wir das schaffen, dann wird irgendwer ersticken. Oder in China fällt ein Sack Reis um. Oder eben auch nicht.

Die Stilisierung des individuellen, kapitalistischen Erfolgs ist toxisch. Vor allem, wenn wir sie mit dem Narrativ von Gewinner und Verlierer paaren. Denn das führt dazu, dass wir in ein Gegeneinander kommen, dass wir uns spalten, dass wir die Gräben, die schon existieren weiter vertiefen. Dieser Ansatz ist weder nährend, noch gemeinschaftlich. Er macht niemanden von uns zu guten Ahninnen. Er ist die platte Wiederholung der Muster, die uns dahin gebracht haben, wo wir aktuell als Weltgemeinschaft sitzen. Und vor allem: ich versteh bis heute nicht, wie ich „das Jahr gewinnen“ kann, wie ich aus dem Jahr als Gewinnerin hervorgehen soll. Gegen wen kämpfe ich denn? Mit wem spiele ich denn? Es macht keinen Sinn für mich. Als Beispiel: 2020 war eines meiner bis dahin wirtschaftlich erfolgreichsten Jahre. Jetzt würde man sagen: ich habe voll gewonnen, das war mein Jahr, bäm! All die Looser, die durch die Pandemie nicht in der richtigen Schwingung waren und die sich nicht fokussiert haben. (Ich würde das so nie sagen, ich nutze es als Beispiel.) Gleichzeitig ist in dem Jahr mein Vater gestorben. Das war ein wahrer Verlust, an dem ich immer noch sitze. Habe ich nun 2020 gewonnen? In meiner Welt nicht wirklich. Habe ich verloren? Auch nicht. Ich habe etwas verloren, was mir unersetzbar ist. Ich habe mir etwas erarbeitet, wofür ich dankbar bin. Und ich habe das Jahr in Demut verlassen.

Von Wichtigkeit zu Relevanz

Was wäre also, wenn wir dieses Jahr nutzen, um uns weniger um unsere vermeintlichen Hater und Neider zu kümmern – von denen es glaube ich in Wahrheit gar nicht so viele gibt – und uns auf die Menschen mit denen wir arbeiten wollen, die Produkte, die wir in die Welt bringen wollen, die Fähigkeiten die wir lernen wollen zu konzentrieren? Was wäre, wenn wir unsere Idee von einem kapitalistisch erfolgreichen Jahr zu einem erfüllten feministischen Jahr umwandeln? Wenn wir einfach wieder mehr unser Ding machen und die Energie, die wir auf diejenigen, die uns vermeintlich scheitern sehen wollen verwenden, denjenigen zukommen lassen, die unsere Unterstützung brauchen? Was wäre, wenn wir einfach unseren eigenen Weg gehen, jenseits der Erwartungen anderer und damit unsere ganz eigene Version von Erfolg kreieren. Und vor allem: wenn wir wieder anfangen so richtig durchzuatmen. Ich glaube das würde uns allen gut tun.

Ich entfolge oder mute aktuell ganz bewusst alle Kanäle und Profile, die mir mit den oben genannten Themen kommen. Denn ich habe mich dazu entschieden, dieses System nicht noch weiter zu füttern, sondern ein neues zu kreieren. Eines welches uns nährt, an Gemeinschaft glaubt und in dem meine heutigen Entscheidungen eben nicht nur mich betreffen, sondern auch immer all diejenigen die nach mir kommen mit einbeziehen. Denn am Ende ist es das, was für mich meinen wahren Erfolg ausmacht: konnte ich eine Welt erhalten bzw. erschaffen, die ich den nachfolgenden Generationen hinterlassen kann.

Wenn alle durchatmen können

Seien wir mal ehrlich: bei Wichtigkeit geht es um mein persönliches Geltungsbedürfnis. Es geht um mich und um nichts anderes. Doch wenn wir es schaffen etwas relevantes zu tun oder in die Welt zu bringen, dann geht es eben auch um andere, dann geht es im Zweifel um uns alle. Relevanz bezieht eben nicht nur meinen Nabel mit ein, sondern das Sein der anderen. Wie wäre es also, wenn wir uns in diesem Jahr fragen:

Wie kann ich Relevanz für Menschen, Umwelt, Erde kreieren.

Und dafür sorgen, dass wir auch noch in 7 Generationen durchatmen können.

Wow, ich glaube das würde die Welt wirklich verändern. Und es sorgt übrigens auch dafür, dass wir erkennen, dass wir alle an einem Strang ziehen. Dem Strang für diejenigen, die uns folgen.

Der Inhalt dieser Seite kann nicht kopiert werden.